Plötzliches Hereinbrechen
Als ich zwölf war, bebte die Erde. Magnitude: 5,5 auf der Richterskala. Der Unterricht hatte eben begonnen, als es auf nie gekannte Weise rumpelte und die Deutsch-Professorin schrie: „Erdbeben! Alle raus!“ Und wir rannten raus, die Professorin als letzte, das weiß ich noch. Im Stiegenhaus stolperte ich, aber eine von uns 500 Schülerinnen stellte mich wieder auf die Beine.
Und dann wochenlang Angst.
Schule. Zuhause. Bei Oma. Das Zittern von außen hatte sich nach innen verlagert – und doch wieder ins Draußen, wo jeder harmlosen Erschütterung das nächste Anrollen von Erdbeben unterstellt wurde. Und, wie funktioniert Rettung, wenn wieder…?
Zeit verging.
Wieder kam im Herbst darauf. Es war Abend. Geschwister und ich schon im Bett. Und da rumpelte es auf schon bekannte und panisch-herbeigefürchtete Weise. Und wie die Fenster klirrten, die Nerven flirrten, und das Licht ging aus, und wir hingen zu dritt an den Eltern, die im katastrophalen Ernstfall auch keinen Schutz geboten hätten. Alles hilflos. Zittern unter den Pyjamas der Nachbarn vorm Haus. War es ratsam, zurückzukehren? Um Dokumente zu retten? Oder schlafen zu gehen?
Niemand von uns kannte das Wort Trauma.
Auch Angst umschreibt den Zustand des Nachher nicht genau. Eine sorgenvolle Befindlichkeit war es, die dem Alltag einen Sound des möglichen Grauens verlieh:
Jederzeit kann Furchtbares hereinbrechen.
Langsam verflüchtigte es sich und machte Platz für strengen Schulkram und das sich selbst zugestandene, verordnete Laissez-faire der 60-iger, 70-iger.Jahre.
Als das Wort Kalter Krieg tiefer ins Bewusstsein drang und die Blümchen der FlowerPowerÄra durcheinanderwirbelte,
als Vietnam nicht nur ein Fleck auf der Landkarte war,
kam es wieder, nur anders:
Jederzeit kann Weltuntergang hereinbrechen.
Er tat es nicht. Ein Glück.
Von Zeit zu Zeit, wenn alles ringsum zur Ruhe geht,
wenn Stille und Abendvögel,
wenn Kinderlachen, die Gespräche der Gänse auf dem Heimweg und ein lauer Wind überm Dorf liegen, geschieht es, dass die Vorstellung eines schrecklichen Hereinbrechens mir den Atem nimmt.
Dann wage ich immer wieder, immer neu den in ein verklärtes Rosé gehüllten Wunsch:
Von jetzt an werde ich mich vorbereiten auf das Hereinbrechen einer ganz anderen, wunderbar-überirdischen Erscheinung, von mir aus göttlich, aber auf jeden Fall gütig und sanft. Und wohlriechend.
Manchmal fällt nur ein Apfel mit Wurm vom Baum,
oder ein Ball von Nachbars Enkel über den Zaun.
Ist mir recht.
In Erwartung des wahren Großen soll man nicht ungeduldig sein.