Ohr im Gras

Du willst es wissen, und du tust es auch, legst dich bäuchlings auf die Erde, ein Ohr im Gras,
und du hörst das Krabbeln und Sumsen, und das Dröhnen der Tiefe, die Wellen der Weite –
was sie anschwemmen, überfällt dich: Jammern, Jaulen, das Wiehern, Gurgeln, Ächzen, das Stampfen von Maschinen, das Weinen, das Brüllen, das schwere Atmen auf der Flucht – Schmerz, Schmerz, niemals aufgewogen durch Lachen, Lust, Seligkeit und Gesang – oder doch?
Genau in dem Augenblick, als ein Kübel voll Mitgefühl über dir ausgeschüttet wird, spürst du das Pieksen von Dornen, einen Mückenstich, und du rennst nach Hause: Wo ist Kuchen? Käse mit Wein? Und Schlaf. Wir hoffen doch, ein unschuldiger Schlaf.

Meine Sommerzeiten, es waren viele,

sie rochen nach Heu und Wald, nach Wasser, Fernweh und Heimweh, nach Kirschen und frisch gestrichenem Gartenzaun.
Scheinbar grenzenlos breiteten sie sich aus unter dem Himmel aus Sonne und Blitz – und waren doch immer zu kurz.
Meine Sommer verbrachte ich auf dem Land, mal näher, mal fern, im Norden, am Meer, in Frankreich, Jugoslawien und in Guter Hoffnung.
Jobben im Sommer, das auch, es musste sein. Und Sommer mit Kind + Bauernhof oder Kultur oder alles auf einmal.
Es waren gute Zeiten. Nicht gut: Miesdraufsein auch in Ferienzeit. Ratlosigkeit. Kummer. Dummes Wort. Wie ein Geständnis. Es lässt sich nicht gern schreiben, tippen und gehört doch dazu. Aus der Ferne der Gegenwart wirkt es nur wie ein grauer Klecks, verwoben ins Muster der Land- und Seekarten.

Was kommt?
August, September.
Winter, Frühling, Sommer: Alles offen. Mit ebenso offenen Armen möchte ich warten. Spaten und Harke voll Tatendrang.
Futtersäcke und Samen bereit für neues Leben.

Heute kein Beitrag,

weil, das kann ich nicht, geht nicht,
weil meine Wildfarbene schwächelt.
Frisst fast nichts. Trinkt. Schläft. Atmet schwer.
Eine Infektion, die sieben andere Tiere nur gestreift hat, macht der Wildfarbenen das Leben schwer.
Noch lebt sie,
meine Alte…
Vor neun Jahren geschlüpft, Mutter von zahlreichen Enten und Erpeln (die auf anderen Höfen weiterleben durften), klug und umsichtig, seit Jahren mit dem Alltag, mit Wetter und Jahreszeiten vertraut, biestig dem Nachbarkater gegenüber, fürsorglich, als Pearl leztes Jahr eine schlimme Verletzung hatte. Und, menschengemachte Moral hin oder her: Die Wildfarbene ist mit dem prächtigsten ihrer Söhne verpartnert. Treu? – Aber  ja, immer wieder.
Jetzt schläft sie. Atmet ruhig? Wird sie am Morgen aus dem Stall flattern? Oder in ihrem wiegenden Gang tapsen ans Licht, wie immer hungrig nach dem neuen Tag, nach Futter und Bad?
Werden Meds und Hausmittel sie noch einmal gesund machen?
Sie soll nicht hustend und leidend sterben.
Müde werden, lange schlafen. Wachen und beobachten. Sind alle da? Unter Sträuchern, im Teich, um sie herum?
Mit allen Sinnen Sonne und Regen spüren. Und wieder und wieder schlafen. Bis zum letzten Atemzug. Ein Tod in Würde für die schwarze Schöne mit den weißen Flügelspitzen.

30. Juli: Sie ist gesund. Tierarzt konnte keine Ursache finden, keine Krankheit benennen und hat die Symptome behandelt. Mit Erfolg.
Die Wildfarbene frisst und trinkt, badet und fliegt auch mal ein Stück. Und schläft…
Weiß sie, dass ihr Müde-Sein vom Alt-Werden kommt?
Dass es kein Zurück gibt zum Übermut der Küken, zum Tauchen und Herumalbern, zum Rennen, Rennen, nur um eine Fliege zu fangen?

„Da landete der Habicht auf dem Feldweg,

ungefähr 15 Meter vor meinem Fahrrad, und ich: Vollbremsung. Er: Eine Flügelspannweite, aber so! Von hier bis nach dort! Und dann hat er sich umgedreht nach mir, mit einem Blick! Natürlich misstrauisch, und ich, zurückgeblickt, voll Respekt. Und dann ist dieser Habicht aufgestiegen, mit mächtigem Flügelflattern hoch, noch höher, und in steilen Kurven über die Weiden in den Himmel.
Ungefähr zwei Wochen später ist meine Emma weggeflogen. Eine von den 8 Warzenenten, die ich umsorgte. Und, wisst ihr was? Der Habicht hat mich gewarnt. „Pass auf, sonst hole ich mir deine Emma“, hat er gesagt, mit diesem Blick, der rückwirkend nicht als misstrauisch zu interpretieren war, sondern als Aufforderung, mich gefälligst darum zu kümmern, dass Emma mit dem Herumfliegen aufhören sollte. Flügel stutzen, fertig. Hab leider nichts kapiert, so Aug in Aug mit dem Wildvogel.“
Die Gruppe, die um mich herumstand, und der vogelkundige Guide machten „hm, hm“, und sie lächelten ein wenig ungläubig, als ich ihnen diese Story auftischte, damals am steinigen Weg zwischen Wald und Feldrain, als wir mit Fernguckern den Himmel und die Bäume beobachteten, ob der Kuckuck, den wir schon gesichtet, der dann aber ein neues Versteck aufgesucht—

Vor vielen, vielen Jahren träumte ich, dass von einer Wunde am Fuß sich ein roter Streifen die Wade entlang nach oben zog, feuerrot, und ich, ängstlich, todesängstlich: „Mama!“
Nach zwei oder drei Tagen seh ich beim Zubettgehen den roten Streifen, und dann in echt: Mama. Salbe. Schlafengehn. Doktor. Nochmal gutgegangen, Weil Unterbewusstsein die schlecht verheilte Wunde als Gefahr erkannte.

Es ist möglich, Signale aus einer möglichen Zukunft zu erhalten.
Trifft zu. – Trifft nicht zu.
Möglicherweise…,
wenn Entspannung und ungerichtete Aufmerksamkeit ES zulassen, dieses Kurzzeittor von anderswo nach hier,
wenn keine Zensur die Info abfängt, bevor sie angekommen ist,
und ja, Unglück-Abwenden: gut.
Erfahrungen verhindern: böse.
Karma austricksen: funktioniert sowieso nicht.

 

Mit Opernzitaten

durch den Tag, eine Gedankenspielerei, die schon am Anfang endet, wenn Werther singt: „Pourquoi me reveiller?“

Ja, warum? Warum aufstehen, wenn Liegenbleiben eine verlockende Alternative wäre?
Weil ganz schön viele Lebewesen – Flora und Fauna – von meinem Funktionieren abhängig sind. Sonst tot.
Weil das genussvolle Verharren in waagrechter Position sich ungünstig auf Herz-Kreislauf und Atmung auswirkt. Und auf dieses aufdringliche ich strenge mich an und werde belohnt-Zentrum im Gehirn.
Weil das Aufschieben von notwendigen Erledigungen einen immer größeren Haufen von Unerledigtem erzeugt.
Weil die Selbstachtung wächst und das Versumpfungspotential schrumpft.

Dann also los.
Nicht zu heftig. Nicht alles auf einmal. Sonst:
„Non so più cosa son, cosa facio…“

Dann, geschafft. „E lucevan le stelle…“, singt es von oben, und müde Zufriedenheit deckt mich zu.

Was hab ich an diesem Tag weitergebracht?
Hat der Tag mich weitergebracht?
Es bleiben noch n-1 Tage. Bis zum Tod.
(„O terra addio“ –  Schön. Bringt aber nichts mehr.)