Abend

Alles fertig. Alles ruht.
Gut? – Ja.
Nur ich ruhe nicht.
Aus irgend einem Grund erinnere ich mich an Evensong und Schule und Musikunterricht. Pflegte man im England des 17. Jahrhunderts mehr religiöse Abendrituale als bei uns?
Das Nachdenken über Traditionen hilft nicht beim Einschlafen.
Dem Tag fehlt noch was.
Ich hätte noch viel mehr hineinstopfen können, in diese ~ 17 Stunden, mehr Lektüre, mehr Ordnung im Schuppen, mehr Tee, einen Brief schreiben mit ehrlichen Worten, den Vorgarten startbereit machen und das Gefühl verjagen, es sei nie genug.
Morgen…
Die Lücke zwischen nicht-mehr-hier und noch-nicht-dort, am Rand des Schlafes, ist heute ein seltsamer Ort. Da drängen sich Melodiefetzen, ein Mm-m…und ein leises
…stille Zeit…:
O du stille Zeit?
Es breitet sich aus, es tröstet.
Warum Trost?
Weil die Nacht den Abschied bringt von allem, was der Tag uns lebendig erscheinen ließ? Weil geschlossene Augen die unvollkommenen Augenblicke, die Fehler, die kleinen Verletzungen nicht ungeschehen machen?
In einem anderen Land – Matratze sackte mit mir und einer seltsam klaren Schlaftrunkenheit zurück in Schulzeiten – entdecke ich noch viel mehr Songs und Lieder für den Abend. Für die Nacht. Wenn das Wach-Bewusstsein schwindet, ist mensch verletzlich, gefährdet. Das Bitten um Schutz legt die Verantwortung in höhere Hände.
Gebete, Lieder, Hofhund, Nachtwächter und Alarmanlagen webten / weben einen Zaun ums Haus.
Kann man hoffen.
Wenn dem Tag auch morgen etwas fehlt, singe ich mir ein Gutenachtlied.

Ich habe die Operette entdeckt.

Und schäme mich nicht.
Was tut sich da auf:
Süße Melodien. Große Gefühle. Sehnsucht, Heimweh, HerzWeh. Alles klingt, alles swingt.

Viel zu harmlos?
Zerstreuung, zu leichtgewichtig?
So soll es sein.
Wer kann zu jeder Zeit die ganze Schwere der Existenz tragen, ertragen, die Last der Sorgen um die Nächsten, die Plagen der Welt?
Ich sage: Niemand kann das.
Und: Niemand darf beurteilen, was für eine Art der Zerstreuung angemessen ist und seriös.
Warum ausgerechnet Operette so reinfährt, bei mir, das möchte ich herausfinden. Nach Wien in die Volksoper. DVD sehen, hören. Analysieren: Was wirkt warum? Sind es tatsächlich zweitklassige Sänger, die für Operetten singen? Worin unterscheidet sich das Musical von der Operette? Oder ist es eine von Geschmack und Kompositionskunst bestimmte Änderung in Darbietung und Publikumsgeschmack? Wieviel Ehrgeiz wurde in die Performance gesteckt? Kann man die Künstler googeln und landet man so bei Broadway & Co? (…)
So viel zu denken, so viel Arbeit.
Aus und vorbei ist es mit der Zerstreuung.

Plötzliches Hereinbrechen

Als ich zwölf war, bebte die Erde. Magnitude: 5,5 auf der Richterskala. Der Unterricht hatte eben begonnen, als es auf nie gekannte Weise rumpelte und die Deutsch-Professorin schrie: „Erdbeben! Alle raus!“ Und wir rannten raus, die Professorin als letzte, das weiß ich noch. Im Stiegenhaus stolperte ich, aber eine von uns 500 Schülerinnen stellte mich wieder auf die Beine.
Und dann wochenlang Angst.
Schule. Zuhause. Bei Oma. Das Zittern von außen hatte sich nach innen verlagert – und doch wieder ins Draußen, wo jeder harmlosen Erschütterung das nächste Anrollen von Erdbeben unterstellt wurde. Und, wie funktioniert Rettung, wenn wieder…?

Zeit verging.
Wieder kam im Herbst darauf. Es war Abend. Geschwister und ich schon im Bett. Und da rumpelte es auf schon bekannte und panisch-herbeigefürchtete Weise. Und wie die Fenster klirrten, die Nerven flirrten, und das Licht ging aus, und wir hingen zu dritt an den Eltern, die im katastrophalen Ernstfall auch keinen Schutz geboten hätten. Alles hilflos. Zittern unter den Pyjamas der Nachbarn vorm Haus. War es  ratsam, zurückzukehren? Um Dokumente zu retten? Oder schlafen zu gehen?

Niemand von uns kannte das Wort Trauma.
Auch Angst umschreibt den Zustand des Nachher nicht genau. Eine sorgenvolle Befindlichkeit war es, die dem Alltag einen Sound des möglichen Grauens verlieh:
Jederzeit kann Furchtbares hereinbrechen.

Langsam verflüchtigte es sich und machte Platz für strengen Schulkram und das sich selbst zugestandene, verordnete Laissez-faire der 60-iger, 70-iger.Jahre.

Als das Wort Kalter Krieg tiefer ins Bewusstsein drang und die Blümchen der FlowerPowerÄra durcheinanderwirbelte,
als Vietnam nicht nur ein Fleck auf der Landkarte war,
kam es wieder, nur anders:
Jederzeit kann Weltuntergang hereinbrechen.
Er tat es nicht. Ein Glück.

Von Zeit zu Zeit, wenn alles ringsum zur Ruhe geht,
wenn Stille und Abendvögel,
wenn Kinderlachen, die Gespräche der Gänse auf dem Heimweg und ein lauer Wind überm Dorf liegen, geschieht es, dass die Vorstellung eines schrecklichen Hereinbrechens mir den Atem nimmt.
Dann wage ich immer wieder, immer neu den in ein verklärtes Rosé gehüllten Wunsch:
Von jetzt an werde ich mich vorbereiten auf das Hereinbrechen einer ganz anderen, wunderbar-überirdischen Erscheinung, von mir aus göttlich, aber auf jeden Fall gütig und sanft. Und wohlriechend.

Manchmal fällt nur ein Apfel mit Wurm vom Baum,
oder ein Ball von Nachbars Enkel über den Zaun.
Ist mir recht.
In Erwartung des wahren Großen soll man nicht ungeduldig sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fragen zur Jahreszeit

Sind Federn ein ausreichender Kälteschutz?
Ein Vogel mit seinem kleinen Körper kühlt doch viel schneller aus als mensch.
(Ich hielte es auch mit zwei Anoraks übereinander nicht aus, Tag und Nacht im Freien zu leben.)
Es heißt, Totholz bietet Raum für Insekten, Würmer und andere Leckerbissen. Oke, ich hab ein paar Äste von alten Apfelbäumen im Garten herumliegen lassen – aber noch nie gesehen, dass Vögel zum Fressen dort einkehren.
So ist es auch mit den verwelkten Blüten und Samen. Sollen als wertvolles Futter dienen.
Müsste ich  Holz und Blüten in die Bäume hängen?
Und die Amsel, die im Schuppen schläft?, wohnt?
Ich sehe sie immer nur zu Fuß aus dem Schuppen, zur nächsten Wiese eilen. Fort ist sie, unsichtbar unter dem Gestrüpp am Zaun, im Weinstock, an der Hausmauer. – Kann sie nicht fliegen? Wohnt sie hier im Schuppen, bis nach der nächsten Mauser das perfekte Federkleid nachgewachsen ist?
Nachbarkater, hinweg! Die Amsel steht unter meinem Schutz!

Für mich bleibt, das zu tun, was möglich ist: Vielfältiges Futter auslegen, und das regelmäßig in der Früh zur selben Tageszeit. Weil Vögel sich darauf verlassen, weil sie bei Schnee diese kleine Sicherheit brauchen.
Ich würde mich gern dazusetzen und ihnen vom Frühling erzählen…

Freundlich zum Jahreswechsel

Vor vielen Jahren: Neu in Tirol. Mit leichtem Rucksack und schwerwiegender Sprachverwirrung. Auf einmal ging die Tür zu einer Clique auf, ich hatte Nachtlager und bald auch ein Zimmer in Untermiete. Silvester kam. Dazu die lockere Frage Kommsch mit auf die Hüttn?
Viel später diese Winterreise: London und dann fort, hinaus. Nichts als Natur wollte ich, und die bekam ich. Spazierengehen endlos am Rand vom endlosen? Meer, zwischen Exeter und Lyme Regis. Wind. Klippen. Weiden mit Schafen. Wellen und Wiesen. Kein Gedanke an Unterkunft und Bett, bis die ersten Häuser von Seaton aus der späten Dämmerung tauchten. Ländlich-unberührt, dieses Nest. Bed&Breakfest?  – Unfortunately not.
Trotzdem an die Tür geklopft – Die zwei älteren Damen wollten surely nicht mehr vermieten, aber…
Noch viel später, fast neu in Berlin: Am ersten Jänner aufgewacht mit Fieber, Husten, Kopfschmerz. Dazu wildes Zahnweh und dicke Backe. Es begann die umständliche Suche nach Feiertagsdienst: Hotline abfragen und die Tonbandstimme beim zutreffenden Bezirk unterbrechen. Dann der Anruf. Das Leid beschreiben. Jammern Bitten. Feiertagnotdienstzahnarzts Antwort: Wir ham erst ab Mittag offen, aber wennse so arge Schmerzen haben…
Danke!
Würde werauchimmer mich zu unorthodoxen Zeiten bitten, meine gewohnte Bequemlichkeit aufzugeben um einzuschreiten / zu teilen / trösten /…
wäre  ich / nicht / aber sicher / vielleicht bereit…? – Yes probably.