Hören. Lesen. Schreiben 10. Zur Zeit der Weinlese

musste mithelfen, wer gesund und kräftig war. Keine Erntemaschinen, nur Handarbeit. Einmal wurde auch meine Mutter gerufen und fuhr mit mir die gut 120 km in dieses südoststeirische Dorf auf dem Hügel. Mit seinen Weingärten ringsum sah es behütet aus wie in einem locker gehäkelten, grünen Rollkragenpullover.
Mir ging es gut in jener Woche. Von den Aufregungen rund um die Weinlese, die wie aus einem Versteck im Untergrund immer wieder auftauchten, bekam ich nur wenig mit. Weil, mir ging es richtig gut. Durfte Trauben essen. Hatte alle Freiheit, die ich mir wünschte, weil jeder beschäftigt war. Und vom ersten Stock aus konnte man weit nach Jugoslawien sehen. Dieses Wort klang fremd und bedeutsam, als würden dort Wesen mit sieben Beinen und ewig lächelnden Köpfen hausen. Obwohl: Viel war nicht zu erkennen. Weingärten hier, Obstbäume drüben. Und umgekehrt.
Diese eine Woche Schule im Dorf auf dem grünen Hügel war sehr anregend. Der Schulweg, gemeinsam mit den anderen Kindern nahm mir zum Glück die Schüchternheit im Fremd-Sein. Und im Unterricht war ich sowieso gut, hatte doch schon mit fünfeinhalb lesen gelernt. Dass die hier gleich drei neue Buchstaben an einem Tag durchnahmen, damit würde ich daheim angeben können. Doch las ich brav mit den anderen R I T A, S U S I  und  T O N I. Und bastelte daraus neue Wörter und Sätze und füllte die Zeit, mit den Sätzen lauter kleine Geschichten anzufangen. Das gefiel mir besser als der eine  zaghafte Schluck Wein, den ich kosten durfte. Rot wie Himbeersaft, aber der Geschmack – ?!
Heute schätze ich das aparte Aroma von Grüner-Veltliner-Reben auf kargem Steinfelder Boden, mit dem leicht edel-sauren Duft im Abgang, bei nicht nur vegetarischer Speisenbegleitung, während meine zwei Weinstöcke in einer windgeschützten, sonnigen Ecke im Garten jedes Jahr einen Urwald aus Blättern sprießen lassen und nur fünf bis sieben Traubenbüschel.
Weiß gar nicht, was das falsch läuft. Hatte doch die vielen www-Ratschläge richtig gelesen…

Hören. Lesen. Schreiben. 9. Düsterer Nachmittag, 1996

Stadtteilbibliothek in Berlin-Friedrichshain, wo ich die DDR-Literatur kreuz und quergelesen habe, von Helga Schütz über Thomas Brasch (…) zu Franz Fühmann. Der Bibliothekar, noch düsterer: „Diese Bücherei hört auf zu bestehen. Wird umgebaut. Nu ratense mal, was draus wird?“
„Supermarkt?“ / „Nee.“ / „Kita?“ /
„Ganzganz verkehrt. Da soll ’ne Bank her!“

Ganz umgekehrt: Bücher hinter Klostermauern. Die dürfen zwar bleiben, aber: Wer liest sie? Wer kann die Schriftzeichen alter Sprachen und der Vorfahren unserer Sprache dechiffrieren? Will man das können müssen?

Ich duck mich weg und konstruiere mir lieber meine BiblioTheke mit ausgewählter Literatur je nach Tageszeit und speziellen Getränken + Imbiss, passend zum Lesestoff. Und Ruhe, bitte.

Und, schön, dass es sie gibt, die nützlichen, die Uni-Bibliotheken, die Kinderbibliotheken, die eifrigen mit Vorträgen und Fortbildung-am-Abend und auch mit LeseNacht in der Nacht, und die abweisenden mit Vorwarnung: Wir schließen in fünfzehn Minuten…, Achtung, in wenigen Minuten…(ist hier alles dicht, weil endlich Feierabend!)

Kinderzimmerbibliotheken finde ich süß: Geordnet nach blauen, roten, gelben Bücherrücken, oder: Oben die Pferdebücher, darunter die Katz- und Hundebücher und ganz tief unten alles andere. Und da war auch noch vor langer Zeit ein junger Verwandter, mit seinem Bekenntnis voll Charme: Ich lese nicht.

Muss man lesen?
Nur, weil Schriftsteller glauben, schreiben zu müssen?
Muss mensch ins Museum, nur weil Maler malen wollen, und ins Konzert, damit Musiker gehört werden?
Alle sollen dürfen, was sie wollen in der Kunst. Doch, von Herzen und mit Inbrunst, mit diesem komischen Wort für Volldampf. Wie reich und lebenswert wäre eine Gesellschaft mit einem großzügigen Vorrat an Zeit, mit einer Schatzkammer als Raum: Zum Gestalten = Machen.
Tu’s einfach!
Ein Gedicht schreiben, nur so. Eigene Bilder an die Wand, und die Wand aus eigener Hand, und Hausmusik im Zelt, und jeder bestickt seine Mokassins mit selbst erfundenen Ornamenten, während Hirtenknaben und auch -mädchen, auf grünen Hügeln sitzend, Flötenmelodien komponieren, während ein Schaf aus der Herde fort—

Empfehlung: Nur Stämme werden überleben von Vine Deborah. Göttingen, 1996

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hören.Lesen.Schreiben 8. Unerwartete Begegnung

vor ein paar Monaten: Stand da plötzlich dieses ältere Professorenehepaar *) vor mir, mit Gruß und Freude und Erinnerungen, so herzlich, wirklich wahr! Schließlich wechselten wir ins Hier und Jetzt, da kam sie locker und geistvoll daher, die Bemerkung, wir müssen los, Filmfest…Originalsprache…Englisch und Französisch –
Aber hallo, nicht nur Lehramt für Griechisch und Latein?! Und was soll ich sagen, so arm mit kaum-mehr-als-Muttersprache, weil Werkzeugkasten zum Schreiben? – „Hm…Englisch lag mir nie so sehr, aber Französisch, das tu ich grad auffrischen, weil, es ist wichtig, eine Fremdsprache fließend zu beherrschen.“
Dann, ein rasches Adieu und gute Wünsche, und ich stand da mit einer moralischen Verpflichtung-wie-ein-Gebirge, weil, ein älteres Professorenehepaar tut man nicht belügen.
Und los ging’s, altes Schulbuch gefunden, o, die Grammatik! Dazu youtube und Sprachbad bei France inter, und ein Wiederhören mit meinem heimlichen König des Chansons, Leo Ferré.
Ja, das belebt, das macht Freude, zugleich nagt es und setzt mir zu, warum hatte ich Es nicht gleich durchgezogen? Französisch studiert, oder Sprachwissenschaft? Mit Ausblick auf Karriere auf Uni oder im (seufz, lechz!) Verlagswesen? Reisen, Auslandssemester, Recherchen und ganz sicher jeden Tag Begegnungen mit klugen Büchern und gleichgestimmten Personen, und alles hätte sich wunderbar entwickelt.
Wie grindig dagegen meine tatsächlich erlebten Reisen mit schäbigem Rucksack und kargem Reisebudget, obwohl, Provence im April, Saintes-Maries-de-la-Mer, dazu Avignon und Arles, das hatte was, und auch die Sprachferien nahe am Meer bei Perpignan, und die Bretagne (Nie wieder Zelt) mit Algen an ihren Rändern und Kühen und Menhiren inmitten –
will ich das und alles-überhaupt tauschen gegen Romanistikromantik?
Hm. Kann nicht groß nachdenken.
Muss weitermachen, Subjonctif présent trainieren.
Vorbereitet Sein für die Stunde der Wiederbegegnung mit älterem Professorenehepaar.

*) Nein, nicht meine Profs aus Mittelschulzeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hören.Lesen.Schreiben 7. Bücher und Orte

Mein Lesevergnügen, auch wenn die handelnden Personen nichts zu lachen haben, in Storys, die sich in ihrem Verlauf tief in Zustände und Verwicklungen hineinschrauben, bis Späne fliegen und Neurosen umherwirbeln, wo Familien/Kleingruppen aus Versehen die Ausgänge so verrammelt haben, dass ES erst am Ende zu Ende geht:
Eifersucht. Liebe. Rache. Selbstlose Zuneigung. Intrigen. Show. Total intime Intimität. Angst. Erschütterung. Und Schlimmeres.
Lesen an einem heimeligen Ort, mit Muße, Kissen und Tee:
noch mehr Vergnügen.

Bücher, die ein breit ausgewalztes Panorama mit historischer Tiefe und geografischer Ausdehnung behandeln, sollte ich – vielleicht – am Rand einer Wiese mit Zwergföhren und windgeplagten Lärchen, mit grenzenlosem Ausblick auf Gebirge und reiselustige Wolken er-lesen, durchleiden. Mit Ausdauer, was schwierig ist.

Stimmt natürlich nicht 100-pro.
Seit Jahren konsumiere ich Thomas Mann zum Brunch, reise mit ihm von Lübeck über Davos und Venedig nach Syrien, Israel und Ägypten und über Weimar und eine mittelgroße biedere Stadt in Sachsen zurück in die Küche, und über allem schwebt der immer gleiche Duft von Fairtrade-Kaffee.

Vor vielen Jahren mit Kind in den steirischen Bergen, nicht weit von der Hütte entfernt: Picknick am Rastplatz, und dann hab ich ein paar Geschichten aus Latte Igel vorgelesen, kühler Nordwind wehte uns um die Ohren, es roch nach Fisch und Meer, und die Schwammerlsoße mit Knödel am Abend war auch ein Hit.

Hören. Lesen. Schreiben 6. Was herauslesen

Freundschaft war es, glaub ich. Nicht ganz dick, nicht so innig, dass wir einander alles (A L L E S !) anvertraut hätten. Nachher, schon weit weg von dort, war ich traurig. Über versäumte Gelegenheiten, flüchtige Nähe. Annäherung, nur um wieder meine eigenen Wege zu verfolgen.
Erst später wuchs, so schien es mir, mit der Zahl der Briefe auch die Freude an imaginierter Gegenwart dieser teuren Person-in-der-Ferne. Aus jeder Zeile, die G mir schrieb, sprach ihre Stimme. Ein bissl rau. Anklang an eine leichte regionale Besonderheit – aber kein Dialekt – , die Mischung aus Schusseligkeit und Herzlichkeit. Wenn ich nach dem Lesen die Augen schloss, saß G mir gegenüber und hatte mir eben ihren Brief vorgetragen.
Und ich konnte nichts, nichts tun, außer zu antworten. Dabei die Überschneidungen von unseren Kreisen und Horizonten suchen: Kultur, Familie, sprühendes Leben, auch in einem Umkreis von bescheidenem Ausmaß. Doch, die Energie, mit der sie dieses Leben gestaltet hat, sprach auch aus den Schriftzeichen, die immer höher, weiter hinaus wollten als das Papier ihnen erlaubte.
Meine Besuche „dort oben“, ungefähr 260 km weit weg vom Meer, habe ich gefeiert. Wollte etwas gutmachen. Hab ich das gut gemacht? Vieles mitgenommen und aufbewahrt als Kostbarkeit.
Ab und zu hat G mir Fotos geschickt. Energie, eingezwängt in zweidimensionale Enge. Momentaufnahmen mit Ahnung, wie der Film dazu ausgesehen hat. Das Gegenteil von blass, auch unter Bäumen.
Die Zeit und der Raum und unsere eigenen Jahre haben die Möglichkeiten des Wiedersehens ausgetrickst. Müdigkeit? – Mein nicht-fortfahren-Können-Dürfen wg. kleiner „Landwirtschaft“?
G’s Briefe der letzten Jahre wurden zu Kärtchen. Wünsche drin, im Überschwang. Für mich. Die Schrift zittrig?

Und jetzt?
Warten?
Abschied?
Ein Brief als Abschied ist viel endgültiger als die Hoffnung, dass irgendwann ein Kärtchen, nur so, mit krakeliger Schrift bei mir ankommt und sagt: Alles ist gut. Ich bin nur ein wenig müde.
Ja. Müde.
Die liebe teure G: Wie bin ich dankbar für alles.