Man tut das nicht. Andererseits…

Mein Zwergziegenplan soll Fahrt aufnehmen.
Zwei sollen es sein, für Coldie und Belinda, die an dieser Begegnung Tag für Tag wachsen sollen. Verantwortung und Zuneigung, daraus entstehen einfühlsame, starke Persönlichkeiten, widerstandsfähig genug, mit sich und der wunderbaren Welt zurechtzukommen. Und mit ihren Schattenseiten.

Ich weiß, man tut das nicht: Über die Köpfe anderern Leute hinweg Tiere schenken.
Natürlich werde ich mit den Eltern der Kinder ein ernsten Gespräch führen. Wir können über fast alles reden, und, ich sehe voraus, dass sie gleich an Werkzeug und Futterkrippe denken werden, an Rezepte für Ziegenkäse und an hohe, hohe Gatter, die jeden Ausbruch verhindern.
Im Gehege müssten würzige Kräuter sprießen. Heu zum Fressen, Blätter zum Knabbern.
Brauchen Zwergziegen Spielzeug?
Wir werden das herausfinden.
Gemeinsam. Nach langer intensiver Nachbarschaft und Verbundenheit über zwanzig Jahre Altersunterschied hinweg. Seit kurzem trennen uns auch hübsche und triste Siedlungshäuser, Lindenallee, Supermarkt, Beserlpark und zwei Straßen mit mäßigem Berufsverkehr.
Macht nichts.
Manchmal kommt ein Anruf, während ich selbst grad zum Handy greife.
Bissl Mystik im Alltag.
Wie nahe, wie fern sind Gedanken, die einander entgegeneilen?

Das Beobachten von Zwergziegen verschiebe ich auf morgen. Mit dem Bus bis an den Rand der Berge, dort verweilen vorm Zaun, und sehen, hören, Video drehn. Und riechen, smile.

Das Handy meldet sich. Fränzi ist dran und lädt mich zu Coldies Geburtstagsfeier ein. (Nicht Party. Party mit seinen Freunden.) In zwei Wochen.
Ich sag danke. „Na sicher komm ich, und was wünscht er sich?“
Pause.
Fränzi zögert und sagt schließlich, dass Coldie eine Überraschung angekündigt hat. Ernst. Es bleibe mir überlassen, ob ich ein Geschenk für Coldie, neun Jahre, aussuchen möchte, oder etwas für diesen kleinen jungen Mann, der eine halbe Stunde lang auf dem Balkon wie festgewachsen schien, zwar in seinen Anorak gehüllt, aber –
und wie er hinter den Horizont zu blicken versuchte, als könne er die Zukunft herauslesen. Oder Ferngespräche führen mit Wesen, die unseren Augen verborgen sind. – „Als er wieder zu uns ins Wohnzimmer kam, summte er eine kleine Melodie vor sich hin, immer wieder, weite Bogen, die auf und ab führten, wie Trost auf kargen Felsen.“
Dazu kann ich nur schweigen.
„Siehst du. Mir geht es genau so“, sagt Fränzi. „Interpretieren, wie denn? Dabei ist er gar nicht soo musikalisch…“

Nichts geht weiter an diesem Abend. Alles zerflattert.
Bis die Dinge ruhen müssen und nur die alte Vinyl sich dreht: Mozarts „Traumbild“ und andere Lieder.

 

 

 

 

 

Klang über dem Hügel

Heute erst kann ich nüchtern über das berichten, was Lela mir über den Abend vom 2. März erzählt hat. Ich war nicht dabei. Ob sie die Wahrheit sagte, kann ich nicht bestätigen.

Wir saßen bei mir daheim auf dem Teppich. Zwischen uns dampfte der Teekessel. Lela war ganz ruhig. Zupfte auch nicht an ihrer schwarzen Bluse herum. Senkte bloß minutenlang die Lider und erinnerte sich…, bis sie begann zu erzählen vom Klang, der in der Luft lag, der sie rief…:

L e l a:   Weißt du, es war verrückt. Und doch nicht. Ich rannte los, westwärts, ließ die letzten Häuser hinter mir, weiter zum Hügel,
nix mit Spazierwegen und beschaulich, sondern die Diretissima hinauf, zwischen Sträuchern und Steppengras-

I c h:      „Steppe“?

L e l a:   Weiß ich doch nicht mehr. War ja finster.

I c h:      Im Finstern sollen Frauen sich nicht allein herumtreiben. Das ist gefährlich.

L e l a:   Ich war beschützt! Eine Art…inneres Glühen behütete mich

I c h:      Also quasi Hitzeschild?

L e l a:   Du nimmst mich nicht ernst!

I c h:      Doch.

L e l a:   Du lügst!

I c h:      Stimmt nicht. Ich will’s jetzt wissen. Erzähl weiter

L e l a Pause. Dann: Da stand ich oben. Auf dem Gipfel dieses mickrigen, nichtssagenden Hügels. Und lauschte einem Klang, den ich zugleich in mir fühlte.
Bis jede meiner Zellen begann, mitzuschwingen, mitzusingen.

I c h:      Und dann?

L e l a:   Weiß ich nicht mehr. Weiß nicht, wie lange das gedauert hat. Und, wie ich nach Hause gekommen bin. Jedenfalls unversehrt.

Lela lächelt. „Rita, glaub mir, es ist gut so, wie es ist. Wie es war.
Wir tranken unseren Tee aus. Im Stillen überlegte ich, ob Lela mit einem handfesten Problem besser dran wäre: Handy vermisst. Oder Kurzschluss. Plus Konversation mit einem naturbelassenen Elektriker.
Nein. Es ist wirklich gut so, wie es ist.

Und ich? Soll auch ich mir einen Hügel mit Erweckungserlebnis wünschen?
Auf dem Mugel im Garten, der aus einem gigantischen, überwucherten Komposthaufen entstand?
Ich würde in den Himmel blinzeln, Wolken sehen und Sperlinge hören. Nichts sonst würde geschehen. Nur beim Abstieg eine Ungeschicklichkeit, ein Sturz. Beschämt würde ich eine Weile liegenbleiben und mich schämen, die Nachbarkatze im Blick, die es ausgezeichnet versteht, das Leben zu genießen und zu warten, dass es sich von seiner freundlichsten Seite zeigt: Sonne auf dem Fell. Maus vor dem Kellerfenster.

Vergangenheit kriecht aus dem Keller

Vor drei Tagen hat Lela mir das Wunderbare erzählt, das ihr widerfahren ist.
Mit Argumenten, die auf Logik beruhen, kann man so etwas nicht widerlegen. Aber, wenn ich an Lelas leuchtenden Blick, das raue Vibrieren ihrer Stimme denke, die vor dem Wunder zu versagen drohte, kommt langsam Neid in mir auf.
Nicht gut, weiß ich doch.
Trotzdem: Ich frage mich, warum ausgerechnet Lela?
Sie, die mit Leichtigkeit ihre Neigungen wechselt,
von Tangotanzen über Griechischlernen  zu Flöte „aber jetzt richtig“.
Und die Haare. Das Soziale. Auf Trab im Galopp,
wie ein flacher Kieselstein, der immer wieder und wieder auf der Wasseroberfläche aufprallt –
und dann diese Erfahrung, voll mystisch.
Auf dem Hügel vor der Stadt soll es sich begeben haben,
mit Blick in den Himmel,

während ich immer so erdverbunden und doch hoffnungsfroh weiterschreite, weiterschreibe: Briefe und Tagebuch und Zeichen in den Sand. Nahezu unbeirrbar von A nach B nach C. Wenn vor D eine Mauer den Weg versperrt, tu ich ein paar Schritte zurück und denke mal nach.

Lela und ich verstehen einander trotzdem gerade deswegen.

Manchmal kracht es:
Vor  Jahrzehnten. Kurztrip nach Hamburg. Was eine Stadt.
Aber! Ich will Unterkunft für die Nacht, Lela hat Lust auf Kakao, jetzt gleich.

I c h:      Nachtlager!. Weil, ohne Dach überm Kopf…-

L e l a:   Kakao! Mit Schlagobers!

I c h:      Nachtlager! Mit dicken Decken!

L e l a:   Kakao! Auf Terrasse am Meer!

I c h:      Nachtlager. Dann Kakao.

L e l a:   Zuerst Kakao, Kakao, Kakao!

Ich habe gewonnen.
Mein Kaffee nach dem Einchecken schmeckte nicht nach Salz und Meer, sondern nach Schweröl und kranken Fischen.
Lelas Kakao sah mich vorwurfsvoll an.

Die guten Erinnerungen packe ich in eine venezianische Gondel und freu mich darüber. Sonne auf der Piazetta…

…Schnee in Kalifornien, auf Mallorca, im Himalaya.
Voilà: Virtuelle heiße Getränke für alle, die frieren!

 

Pause dauert.

Gestern hat mir Lela von ihrem mysteriösen nächtlichen Abenteuer erzählt. Stundenlang habe ich versucht zu verstehen. Nicht am Verstand dieser Person zu zweifeln, die für sich einige physikalische Normalitäten auf den Kopf stellte.
Und ich? Rede mir ein, dass sich die Welt weiterdreht wie immer.
Immer stimmt nicht. Immer neue Tage setzen der Welt zu, wollen sie in den Abgrund stürzen oder Trost senden zwischen Wolkenbergen hervor, oder alles zugleich.
Wer weiß, vielleicht hat Lelas Abenteuer ihr eine Ahnung vom Wissen geschenkt, wie mensch mit der geballten Präsenz von Welt fertigwerden kann…während ich ein Großes Nichts erschaffe und mich mit dem Thema Zwergziegen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Wirkung auf Coldie und Belinda auseinandersetze. ‚
(Über das Große Nichts ist noch nicht entschieden.)

 

Pause aneinander vorbei

Eine Nacht in Sorge.
Lela schien verschwunden.
Und kam doch zurück.

Jetzt ist sie wieder weg.

Ja, wir hatten ein Gespräch,
das diesen Namen nicht verdient. So etwas von NichtVerstehen gab’s noch nie.
Zwischen uns.
Vor hundert Jahren hätte ich mit Kreide auf den zerbröckelnden Boden im Schulhof geschrieben Lela ist doof.
Du auch hätte Lela an die Wand gesprüht, in Leuchtfarben.
Wir haben einander gegenseitigen Rückzug verordnet.
Auch Ihr, lasst mich bitte.
In Ruhe. Denken. Im Kreis gehen.
Nicht mal Lust auf Kaffee.
Was ein Symptom für einen sehr ernsten Ernstfall ist.