Aufbruch 1
Kurz vorm Aufbruch rief meine Schwester an. Sie ist jünger als ich und sehr mobil. Am nächsten Morgen fahren sie auf Urlaub nach Italien: Umbrien – „Hört sich gut an“, sagte ich, „was habt ihr vor?“ – „Ich..muss noch so viel dings…- Wir erzählen alles hinterher…“ – „Gute Reise!“ – Und dann wollte sie noch wissen, ob ich nicht ein wenig zu statisch lebe. Ich: „Gleich heute unternehme ich was. Ausflug, nur so.“
Das Wort Zwergziegenbesuch hätte ich ihr nicht zugemutet. Stand sie doch schon mit einem Fuß im Koffer.
In Italien würde sie aus den unglaublichsten Blickwinkeln fotografieren, was sie mit ihrem ziemlich enthusiasmierten Partner besichtigt: Hinterhöfe, Kirchen, Palazzi und immer wieder auch unscheinbare Inschriften. Trägt er in seinem Seelenkleid ein Steinhäufchen mit sich, das in entscheidenden Momenten zu schwingen beginnt und Antwort sucht?
Auf dem Weg zum Busbahnhof hörte ich wieder einmal einen dieser Straßenmusikanten. Beim Näherkommen, Erschrecken und Überraschung, geriet ich in die äußeren Spiralarme eines himmlischen Meeres aus Klang und –
da, auf den Stufen einer Oberschule stand ein Mensch in hellblauem Wams und spielte den zweiten Satz aus Mozarts 3. Violinkonzert. Als Solo. Doch im Geiste umrahmt von den anderen Stimmen aus Viola, Bass, Oboen und Hörnern, und alles zusammen machte, dass ich abhob und vorm imposanten Eingang der Schule und zum langsamen Satz viel schöne Luftfiguren aufführte…neben dem Konditor des renommiertesten Cafés, ein paar Verkäuferinnen und einem Lehrer, der nach Hause wollte und sich nun selig, Arme ausgebreitet, luftig vergnügte.
Das Ende des dritten Satzes wollte ich nicht so hinnnehmen. „Na, edler Meister, was nun?“, rief ich dem Hellblauen zu, „Mozart für Solo-Violine, da ist Euer Repertoire wohl begrenzt?“
Meister lächelte nur und spielte weiter (um Abstürze zu verhindern?), spielte dove sono i bei momenti, eine Arie der Contessa aus la noce de Figaro…der Höhenflug setzte sich fort, ach was, Flug: Ein bodennahes Gleiten war es, so sehr setzte uns die Melancholie der Geigensingstimme zu. Sehnsucht und Liebe, Enttäuschung. Und dann waren es diese neuen, sehr fein gesponnenen Melodie-Fäden, die ein Hoffnungspflänzchen von Pianissimo zu crescendo leiteten. Ich hatte die Stimme von Kiri te Kanawa im Ohr-
und Widerstand im Kopf.
Man macht das nicht mit mir.
Schweben lassen.
Wo hört das auf?
Meister geleitete sich selbst in einer kurzen Fantasia zu einem Stück voll drive und rhythm, und alles ging noch einmal so richtig hoch, eine wahnwitzige Performance packte uns bei il mio tesoro, waren wir doch mit-Hauptdarsteller in der berühmten Weise um Trost und Rache und natürlich amore. Sanftheit allein tat es nicht, wir mussten ein bisschen boxen und treten und den Wolken drohen, aber alles brav im Takt.
Viel Volk war herbeigeströmt, Heiße Bratwürste und Bier wurden herumgereicht, Hände geschüttelt und Tränen vergossen, während Meister die letzten Akkorde schmiedete und uns zurief: „Mozart hatte nicht Psychologie studieret, doch alles, was mensch an Gefühlen fühlen kann, in seine Musik verpackt! Alles, was lebt und Blut statt Wasser in seinen Adern fließen lässt und ihn höret, werde mit höchstem Enthzücken belohnet für ein ganzes Leben!
Verwirrung. Nachhall. Dankbarkeit.
Vor zehn Minuten war mein Bus abgefahren.